Publiziert in: normal. 19 kurze Geschichten. Pendo Verlag, Zürich, 1983
Der Spiegel blickte ihn an. Spiegel. Er dachte an die grosse deutsche Zeitschrift. Spiegel. Wieso eigentlich? Egal. In diesem, seinem Spiegel spiegelten sich Flaschen. Unzählige Flaschen, einige Gesichter und er selbst. Bewegungen. Das Bier schmeckte ihm nicht, und ausserdem schmerzte ihn der Rücken. Allein war er auch.
Er versah seinen Kopf mit einer Schlagzeile. Gut sah es aus. Neben ihm sass ein alter Mann, alleine, zeichnete mit dem Zeigefinger pausenlos auf der Theke herum. Die Kellner waren freundlich und leerten vorzu die Aschenbecher.
Der Spiegel nickte ihm zu. Bewegung. Er bestellte Kaffee und Whisky. Er nickte zurück. Die Theke stützte ihn, der Zeichner war mit ausgedehnten Mustern beschäftigt.
Alles in allem ein normaler Abend. Nichts tat sich, nichts wurde getan. Auf der Toilette die üblichen Sprüche, ein kaputter Spiegel und ein ziemlich ramponierter Eau-de-Cologne-Automat. Regelmässig war er da Münzen ein und zog am fingerfreundlich gekrümmten Griff. Und nie passierte etwas.
An der Theke war niemand mehr. An den Tischen ein paar junge Leute. Stille. Nichts passierte, es war 21.00 Uhr. Draussen ein milder Frühlingsabend, drinnen dunkel. Die Theke stützte ihn.
Es sass gerne hier. Nicht einmal um sich zu besaufen, nein, er fand hier Halt. Einen ruhigen Punkt. Und er gehörte dazu. Inventar. Ein Kuriosum. Ein lieber Kerl. Punkt.
Um 22.00 Uhr machten zwei Huren Pause. Sassen an der Bar. Sprachen übers Wetter und über Fremdarbeiter. Gingen bald wieder. Der Spiegel war leer. Bewegungen, flüchtige, aber nichts Genaues.
Bei Kneipenschluss stand er auf der Strasse. Blickte sich um. Sah Bekannte, sprach mit ihnen, bedauerte, dass die Kneipen so früh schon schliessen. Er spazierte durch die Altstadt. Beobachtete sein Spiegelbild in dunklen Schaufensterscheiben. Grüsste flüchtig einige Bekannte. Bewegungen.
In einem Nachtlokal traf er wieder Bekannte. Trank mit ihnen, lachte. Keine Spiegel an der Wand, viele Leute. Starr. Er lehnte sich gegen die Theke, starrte in sein Bier. Nichts. Er beantwortete Fragen, die er nicht verstand. Bestellte sich noch etwas zum Trinken, verstreute Zigarettenasche. Irgendwoher Musik. Billiger Sound, der fast nicht zu ihm durchzudringen vermochte, Düstere Deckenbeleuchtung, viel Schatten. Weisse Gesichter, aufgerissene Mäuler. Nichts. Keine Resonanzen. Er zahlte und verliess das Lokal.
Nachtluft. Kühl und klar. Er sog sie ein, spazierte. Dunkle Schaufenster. Spiegel. Er besah seine Hosenaufschläge. Oder hiessen die nicht so? Ging vor einem besonders guten Fenster mehrere Male auf und ab. Sah, begriff. Spiegel. Zupfte an seinen Hosenbeinen herum. Zog sie hoch. Aufschläge. Er lachte. Zog weiter. Spiegel.
Eine Hand tippte ihm auf die Schulter. Er blickte zurück. Die Hand fasst seinen Oberarm, wirbelte den Körper herum. Ein Ausweis wird auf und wieder zugeklappt. Fragen. Er muss eine Hosen wieder in Ordnung bringen. Die Stösse sind bis zu den Knien hochgerollt. Er wird beobachtet. Leute um ihn herum rufen, reissen Witze, Dann wird er bestimmt zu einem Wagen geführt und unsanft hineingestossen.
Die Personalien. Fragen. Er antwortet nicht. Schwankt leicht. Fragen. Dann ein kleiner Raum. Eine vergitterte Glühbirne an der Decke, Pritsche, ein schräg gestelltes, ebenfalls vergittertes Fenster. Ein Eimer in der Ecke. Schwindel. Er setzt sich hin.
Unter seinen Knien, die leicht angewickelt sind, ist Schatten. Seine Hand tastet danach. Er wechselt seine Stellung ein wenig, der Schatten wird grösser. Schatten. Er lacht. Seine Hände tauchen in den Schatten, bleiben aber trotzdem sichtbar. Er beginnt sich zu verrenken. Der Schatten wird grösser, kleiner, grösser.
Durch ein Guckloch in der Türe werden seine Bewegungen und Verrenkungen beobachtet. Dann wird die Türe geöffnet. Schatten, grössere, fallen über ihn. er schreit. Feste Hände halten ihn. Stimmen. Wärme, die kriecht, die dumpf ist. Stimmen.
Er erwacht. Taube Glieder. Er versucht sich aufzusetzen, fällt. Nass. Seine Hand fährt durch Nasses. Er hebt sie an den Mund, schmeckt. Seine Hosen sind nass. Durchgehend. Er schüttelt den Kopf, stützt sich wieder ab. Seine Hand klatscht in die Nässe. Sein Körper versucht, sich wieder aufzurichten. Fällt. Die Nässe glitzert, glitzert ihm zu. Wieder führt der die Hand zum Mund. Bitter. Sein Kopf fällt. Fällt.
Als er erwacht, findet er sich auf einer Pritsche wieder. Verwundert versucht er aufzustehen. Seine Glieder sind taub, sein Kopf schmerzt. Er blickt sich um. Eine Zelle. Er versucht, sich zu erinnern. Schliesslich tut er ein paar Schritte. Vorsichtig. Seine Hose ist feucht. Klebrig. Er stinkt. Alles an ihm stinkt. Er stolpert zur Tür, beginnt zu klopfen.
Eine Stunde später hört er in einem kleinen Büro, dass er sich saumässig aufgeführt habe. Er muss von gestern erzählen. Wo er war, was er getrunken hat, was passiert ist. Er weiss es nicht. Erzählt irgendetwas. Dann muss er ein Protokoll unterschreiben, wird belehrt und kann dann gehen.
Er geht. Die Strasse blendet ihn. Eine Brücke. Er lehnt sich gegen das Geländer, blickt hinab. Weit weg sein Spiegelbild. Es winkt. Winkt. Er lacht, winkt zurück.
Spiegel.
Hinter ihm Rufe. Dann zerspringt der Spiegel.