Publiziert in: er. 16 kurze Geschichten. Pendo Verlag, Zürich, 1981
Er pflegte im Kino immer in der vordersten Reihe zu sitzen. Dort konnte er sich, ungestört durch Köpfe vor seiner Nase, in den Film hinein leben. Er stellte sich vor, er wirke im Film mit. Bei jeder Schlägerei zuckten seine Hände, bei jedem hinterlistigen Schuss war er versucht zu rufen, zu warnen. Manchmal sprach er unbewusst mit. Rief oder sprang auf. Gestikulierte. Die Leute hinter ihm pflegten zu zischen und ihn zurechtzuweisen. Er beachtete sie nicht. Nie. Er hörte sie nicht. Und verstanden hätte er ihre Proteste ohnehin nicht.
Lee Marvin sah ihn genau an. Sah im in die Augen. Spuckte aus.
„Listen, son …“
Die Leute auf der Leinwand sprachen mit ihm. Ja, mit ihm, Kurt Locher. Sie akzeptierten ihn, sie spielten mit ihm und liessen ihn mitspielen. Jeden Nachmittag ging Locher ins Kino. Vorwiegend in Action-Filme. Andere interessierten ihn nicht. Nicht mehr. Die Handlung war ihm eigentlich nicht so wichtig. Es kam ihm auf die Bewegung an.
Manchmal beobachtete er Gastarbeiter beim Verlassen des Kinos. Er bewunderte sie grenzenlos, wie sie nach den Filmen so aus den Kinos rauskamen. Bei Western breitbeinig, lässig, bei Karatefilmen locker und agil, bei Krimis langsam und umsichtig. Eigentlich wie Kinder, aber was soll’s! Hauptsache, man hat seinen Spass.
Manchmal ging Locher sogar zweimal am Tag ins Kino. Er konnte sich’s leisten; für seinen Lebensunterhalt brauchte er nicht viel Geld. Doch eines Tages bekam er im Kino Kosmos einen Verweis. Sein dauerndes Gezappel und Gerede störe die anderen Kinobesucher. Locher verhielt sich darauf hin ruhig. Eine Woche später zwar der Zwischenfall aber vergessen. Diesmal warf ihn der Platzanweiser hinaus. Verstört ging Locher nach Hause.
Mit der Zeit erhielt er in einigen Kinos Besuchsverbot. Ein Kino-Besitzer liess sogar die Polizei holen. Die Beamten waren freundlich, machten ihm aber klar, dass er sich ruhig zu verhalten habe und dass er nicht der einzige Kinobesucher sei. Dann liessen sie ihn laufen.
Locher ging immer weniger aus. Er hatte mittlerweile in fast allen Kinos striktes Verbot. Polizeilich. Aehnlich wie Wirtshausverbot. Er hatte einer Platzanweiserin eine Ohrfeige verpasst.
Locher blieb überhaupt zu Hause. Nur noch zum Einkaufen verliess er seine kleine Einzimmerwohnung.
Die Verkäuferin, die ihn schon seit Jahren bediente, wunderte sich, warum der nun sicher schon Siebzigjährige nicht mehr so kühn und sicher auftrat. Er wirkte in letzter Zeit schüchtern, sprach nur noch sehr leise, wirkte alt und vereinsamt.
Ja, ja, in einem gewissen Alter gehe es halt abwärts, dachte sie und schob ihm das Wechselgeld zu.