Herr Knopf besucht den 4. Kreis

Publiziert in: kultzürichaussersihl, Verlag Um die Ecke, Zürich 2010, ISBN 978-3-033-02342-0

Herr Knopf, passionierter Kneipenbesucher, regelmässiger Passagier derBuslinien 32 und 33, Trinker, Raucher, nörgelnder Früh-Hegelianer und Käseliebhaber, ist unterwegs.
Eigentlich ist Herr Knopf immer unterwegs. Doch hier im Langstrassenquartier ist es  ein Unterwegssein der besonderen Art.

Seit dem Tag, als Herr Knopf eine Wasserratte in einem Hinterhof der Dienerstrasse entdeckt hat, sieht man ihn des öfteren am frühen Morgen mit Käserinden in der Hand durch graue, versiffte Höfe streifen. Die schmatzenden Laute, die er dabei von sich gibt, irritieren herumstreifende und -suchende Drogenabhängige genauso wie sonstige Frühaufsteher, Hausabwarte und Streifenpolizisten. Auf sein seltsames Tun angesprochen, begehrt Herr Knopf vehement auf.

„Die am Züriberg oben, die haben Eichhörnchen. In Schwamendingen gibt’s Neger, in Wollishofen Kinderwagen. Wasserratten hingegen sind fast so selten wie Iraker ohne Schnurrbart.“ Zweifelsohne ist Herr Knopf manchmal ein undifferenzierendes Arschloch.

Sitzt er in Kneipen oder „Restorangs“,  so bemerkt man ihn erstmal nicht.
„Ninja-Technik“, erzählt er mir im Drogen-Express (Bus Nr. 32) und schwadroniert dann gleich über einen Kumpel los, einen Japaner mit Züri-Dialekt, der mit einem Samuraischwert in der Hand in den 70er-Jahren erfolgreich versucht haben soll, den Verkehr auf der Kreuzung Langstrasse/Militärstrasse zu regeln. „Das waren noch Zeiten“, meint Herr Knopf sehr laut  und stösst mich mit dem Ellbogen an.
Von der Ninja-Technik ist im Bus nichts zu bemerken.
Einige Ellbogenstösse später erklärt Herr Knopf einen sexistischen Witz, den er kürzlich von einem Galeristen gehört hat. Richtig, er erklärt ihn, er erzählt ihn nicht. Und bringt sowohl das SMS-Getippse wie auch das „M’bele N’kele“-Gerede ringsum zum Verstummen.
An der Haltestelle Militärstrasse empfiehlt er mir, ihm zu folgen. Ich folge seinen  schuppenbedeckten Schultern.
Herr Knopf leidet an „Zoriasis“, und er leidet wirklich. Natürlich kennt er das richtige Wort für diese Schuppenkrankheit, aber er weigert sich seit der Gründung der Autopartei, die Konsonanten PS hintereinander auszusprechen. Darum singt er auch keine Zalmen. Und der Papst heisst Pazt.

Kurz vor dem Gambrinus, welches notgedrungen aufgesucht werden muss, weil die Olé Olé Bar erst in 4 Stunden öffnen wird und sowieso alles im Eimer sei, bedauert Herr Knopf kurzatmig (Gauloise) den herben Büchsenerbsliverlust, der mit der Schliessung des Café Memphis erfolgt ist. „Meine Herren, die hatten da einen Schinkenkäsetoast mit Tiger-Käse-Scheibletten, der sich gewaschen hat, aber hallo!“
Der Einwand, was die Büchsenerbsen damit zu tun hätten, war unbedacht.
„Pastetli!“ Ich werde an die versiffte Mauer genagelt. „Pastetli ist das Gericht der Langstrasse! Der Sonntagsbraten der Arbeiterklasse! Die Geisel des Kapitalismus! Alle Macht den Pasteten. Pastetosan für alle!“
Zweifelsohne hat Herr Knopf heute schon einige Kleinigkeiten getrunken.

Im Gambrinus gibt’s heute keine Pastetli. Herr Knopf  bestellt aber flugs 2 grosse Bier, die er beide schon mal antrinkt, um „das Gleichgewicht zu halten“ und empfiehlt die Walliser Käseschnitte. Herr Knopf selber isst nichts. Er habe am 24. Juni 1971 „damit“ aufgehört.
Keine Fragen an Herrn Knopf.
Listig blickt er über sein leeres Glas in die Runde. Ninja-Knopf. Er kriecht zurück in sich, wird Ein & Alles mit seiner Umgebung. Ich kann in Ruhe essen. Herr Knopf  ist still.  Zu still.
Die Käseschnitte wird serviert, die nächsten Bierchen ebenfalls. Herr Knopf beäugt meinen Teller und bekundet Lust auf einen kalten Bohnensalat „mit viel Zwiebeln, Knoblauch und so“, was ihm jedoch verwehrt wird, und ich bin irgendwie dankbar dafür. Also bestellt Herr Knopf ein Salamibrot mit allem Drum und Dran.

Am Nebentisch wird Herr Knopf von einigen Handwerkern erkannt, flugs gibt’s neue Biere und es wird über Sparren und Schindeln referiert. Herr Knopf scheint Bescheid zu wissen. Die Sparren und Schindeln erinnern ihn an „Sparen und Schwindeln“, eine Technik, die er in den 70er-Jahren im „Krokodil“ verfeinert haben will. Einer der Dachdecker scheint sich an diese Zeit zu erinnern, und sofort ist die Rede vom schwulen „Dachdecker-Toni“, der leider vor 18 Jahren völlig unerwartet gestorben sei, just in dem Moment, als er in einem Abbruchhaus geblümte Badezimmerplättli klaute, um seiner Tante, der „Fröhlichen Gertrud“, das Badezimmer neu zu täfeln.
„Plättli-Klauen lohnt sich nicht“, meint Herr Knopf, und der Nebentisch ist gleicher Meinung. Dem „Oberlicht-Willi“ sei das schliesslich auch zum Verhängnis geworden. Damals. Diese Erkenntnis wird mit einer Runde Bier bestärkt und für einen kurzen Moment herrscht Schweigen.
Herr Knopf mustert eingehend die eingebundenen Beine der Serviertochter, und ich befürchte Schlimmes.
Unlängst hat mir Herr Knopf erzählt, warum gute Serviertöchter im Kreis 4 generell eingebundene Beine haben. Er tat dies mit solcher Vehemenz, dass wir aus dem Nachtclub, in dem wir für teures Geld hübsche Mädchen und viel nacktes Fleisch betrachteten, rausgeschmissen wurden. Für Herrn Knopf war das nichts Neues, er bedauerte  anschliessend nur, dass er sein Samariterabzeichen aus dem Jahr 1964 beim hektischen Aufbruch offenbar verloren hatte.
„Da kann man nichts machen“, meinte Herr Knopf, „der Herr gibt’s, der Stenz nimmt’s.“
Zweifelsohne ist Herr Knopf ein schlechter Logiker.

Die Dachdecker sind mittlerweile beim Café Fertig angelangt, einem Getränk, das Herr Knopf glücklicherweise verabscheut. Es verstopfe die Arterien und er, Herr Knopf, habe nicht die Absicht, seinen Lebensabend als Paketbeilagenleser in der Pestalozzi-Bibliothek zu verbringen. Die Dachdecker sind da andrer Meinung.
Wen kümmert’s. Herr Knopf lehnt sich entspannt zurück und mustert liebevoll und gütig meinen leer gegessenen Teller. Und dann mein Gesicht. Mit dem Resultat offenbar zufrieden drängt er mich, ein paar Häuser weiter im Aargauerhof noch ein Gläschen Cognac zu genehmigen. Er habe da, so Herr Knopf, vor Jahren einen ausgezeichneten Medizinal-Cognac getrunken. 1A und gut eingeschenkt. Liebevoll, ja fast aufopfernd kredenzt. Und billig.

Im Aargauerhof sind aber die Tische weiss aufgedeckt und Herr Knopf wirkt zum ersten Mal an diesem Tag leicht verunsichert. Medizinal-Cognac gibt’s hier mit Sicherheit nicht mehr. Beim Verlassen des Lokals lässt Herr Knopf eine Zeitung mitgehen: den Stellenanzeiger des Tages-Anzeigers. Er wolle damit, so meint er, einem arbeitslosen Akademiker eine Freude machen. Er kenne diesen seit Jahren. Und dieser freue sich, ebenfalls seit Jahren zusammen mit Herrn Knopf, in jeweils späteren Abendstunden bei Kerzenlicht und Rotwein  in einem Mata-Dienst-Appartement  kleine Lesungen quer durch die Niederungen der Arbeitswelt abzuhalten.
„Das“, so meint Herr Knopf, „ist die Würze eines Lebens, das durch schlechte schulische Ausbildung geprägt ist.“ Aus früheren Erzählungen weiss ich, dass der akademische Freund mittlerweile 72 Jahre alt ist und gelegentlich Horoskope für eine Sexpostille schreibt. Natürlich schweige ich aber und versuche die Langstrasse zu überqueren, was aber nicht so einfach ist, weil Herr Knopf jemanden entdeckt hat, dem er „unbedingt noch Bescheid stecken muss“. Mitten auf der Strasse. Der „Jemand“ ist eine ältere Dame in einer Trainerhose, die wahrscheinlich aus einem Spendenpaket der Schweizerischen Winterhilfe des Jahres 1948 stammt. Herr Knopf erteilt gute Ratschläge, einen renitenten Mieter betreffend, der sich des Nachts in ungehöriger Weise am Briefkasten der besagten Dame zu schaffen machen scheint.
„Briefkästen“, so Herr Knopf, „gehören zu den fundamentalen Eckpfeilern der freien Meinungsbildung, sind unantastbar und müssen respektiert werden.“ Die Dame versteht nichts, der Bus hupt zornig und Herr Knopf zieht mich weiter. Ich soll nicht stehen bleiben, das sei gefährlich.
Die Dame bleibt auf der anderen Strassenseite stehen und Herr Knopf bemüht sich, ihr mit fahrigen Bewegungen noch dies und das klar zu machen, weil, so erklärt er mir, Briefkästen im Leben der älteren Menschen wichtig seien.
Herr Knopf hat eine soziale Schlagflussader.

Es stellt sich nun die Frage, ob man den Schweizer Degen oder die Alte Metzg besuchen soll. Beide Lokale, so Herr Knopf, seien gute Beispiele für „missilierte“ Ausländer. Ich habe es schon lange aufgegeben, die manchmal seltsamen Wortbildungen des Herrn Knopf zu korrigieren. Sie führen in der Regel zu längeren Ausführungen, denen aber meistens nur sehr schwer zu folgen ist.
Herr Knopf entscheidet sich für die Alte Metzg, weil da ein Ochsenkopf an der Wand hängt, der es ihm schon immer angetan haben will. Ausserdem habe er Lust auf eine Wasserpfeife, weil man ja nachher noch ins Kino Roland gehen könne, um die Zeit zu überbrücken.
Ich habe Zeit, also werde ich den Ochsenkopf angucken und gemeinsam mit Herrn Knopf überbrücken.
Herr Knopf ist ein praktischer Mensch.

Den Ochsenkopf haben wir gesehen  und die Wasserpfeife war leider bereits besetzt. Herr Knopf begutachtet wohlwollend das Gemüse in der Buffet-Auslage und nervt die ausländische Bedienung mit Zitaten aus der Weltpolitik, die er sich kürzlich bei einem Ausflug nach Neu-Affoltern zugelegt haben will.
Im Kino Roland lädt mich Herr Knopf grosszügig ein und drängt mir eine Art Kreditkarte für die Benützung der Video-Sexkabinen auf. Ich soll mir doch mal was Gutes antun, er werde gerne im Foyer warten. Er habe, so Herr Knopf, diese ganze Scheisse schon vor Jahren gesehen.
Ich sitze also in der Kabine. Ich warte, stecke die Kreditkarte in die Apparatur. Ich warte. Was soll ich hier?
Herr Knopf klopft an die Türe. Ob alles o.k. sei, will er wissen. Ich antworte mit „JA“. Herr Knopf scheint beruhigt zu sein. Ich höre seine Schritte im Gang. Hin und her. Und wieder klopft er und fragt, ob alles in Ordnung sei. „JA“, schreie ich. „Schon gut schon gut“, höre ich Herrn Knopf. Seine Schritte entfernen sich.
Im Hintergrund Stimmen. Herr Knopf scheint sich mit dem Kassenpersonal zu unterhalten. Gut so. Ich begutachte das Interieur der Kabine. Schliesslich nehme ich die unbenutzte Karte wieder an mich und verlasse die Kabine.
Tatsächlich, Herr Knopf steht an der Kasse und unterhält sich lebhaft mit einer älteren Dame.
Flugs wendet er sich mir zu. „Alles in Ordnung?“, so seine Frage. Ich bestätige und spüre einen Druck auf der Blase. Die Dame an der Kasse sieht mich irgendwie seltsam an und ich freue mich, das Kino zu verlassen.
Herr Knopf besteht darauf,  die Kabinen-Kreditkarte wieder an sich zu nehmen. „Für Notfälle“, meint er. Ausserdem seien da 2 Franken Depot drauf.
Willenlos lasse ich mich über die Strasse treiben. Herr Knopf spricht vom Bermuda-Dreieck. Dort sei kürzlich ein Milieu-König zu Tode gekommen und das Lebensmittelgeschäft gegenüber habe ein dickes Geschäft mit Friedhofskerzen gemacht, welche just an diesem Tag im Sonderangebot waren.
Das Schuhgeschäft nebenan sei übrigens auch nicht schlecht, da gäbe es jedes fünfte Paar gratis. Unwillkürlich blicke ich auf Herrn Knopfs Schuhe.
Im Bermuda-Dreieck sonnen sich die Herren der Welt. In der kleinen Kreis-4-Welt. Herr Knopf weiss zu berichten, dass der grösste Teil des zur Schau gestellten Schmucks aus dominikanischem Zahngold besteht. Dem begleitenden Ellbogenstoss entnehme ich, dass Herr Knopf einen Witz gemacht haben will.
Natürlich bestellt Herr Knopf in solcher Umgebung Prosecco. Ein Getränk, das ich eigentlich verabscheue. Aber Herr Knopf ist ein Freund der Integration, wie er immer wieder zu bestätigen weiss. „Man muss sich anpassen“, so Herr Knopf, „nur dann hat man eine Chance.“ Ich passe mich also an.
Eine ereignislose halbe Stunde verstreicht. Ich müsste eigentlich dringend zur Toilette.
Herr Knopf verfällt wieder in seine Ninja-Stellung. Beobachtet. Stösst mich wiederholt mit dem Ellbogen an. Nickt wissend.
Schliesslich fordert er mich auf, auszutrinken. Er bezahle alles. Anschliessend werden wir uns billige 1A-Bettwäsche angucken. „Da kannst du was lernen“, meint Herr Knopf. Ich guck auf meine Uhr, was ich ein paar Sekunden später bitter bereue.
„Deine Uhr“, sagt Herr Knopf, „ist schön, aber nichts wert.“  Er will mir zeigen (nach dem Bettwäsche-Angebot), wo ich schnell und kompetent die Uhrenbatterie wechseln lassen kann und bei dieser Gelegenheit auch gleich noch einen Kugelschreiber geschenkt kriege.
Herr Knopf ist ein praktisch denkender, konsumorientierter Mensch.

„Warte mal“, so Herr Knopf. Er geht ein paar Tische weiter und spricht einen der zahlreich vertretenen Zuhälter an. Und zeigt zwischendurch immer wieder auf mich. Die Blicke im Lokal werden nun auf mich fokussiert.
Endlich kommt Herr Knopf zurück.
„Das war der Freund der verstorbenen Trudi“, resümiert er, „der Trudi, die letzte Woche im Strandbad ertrunken ist. Du erinnerst dich?“
Ich kenne Trudi nicht. Und schwimmen kann ich auch nicht. Warum also hat Herr Knopf immer wieder auf mich gezeigt?
Blicke bohren sich in meinen Rücken, als ich zusammen mit dem leicht schwankenden Herrn Knopf das Lokal verlasse.
Die Bettwäsche ist glücklicherweise vergessen, weil Herr Knopf in einem italienischen Geschenkartikel-Laden ein paar Strassen weiter unbedingt einen Wandteppich kaufen will.
„Ein röhrender Hirsch mit blinkenden Augen!“ ereifert er sich.
Tatsächlich, den Teppich gibt’s und wird auch flugs von Herrn Knopf gekauft. Und bei der Gelegenheit kredenzt er mir auch einen kleinen Schaukasten mit einer Uhr inklusive eines plastischen Madonnenbildes, welches im Sekundentakt nickt. „Bei jedem Stundenschlag“, so Herr Knopf, „ gehen noch kleine Lichter an, die das ganze Kunstwerk illuminieren!“
Angesteckt von Herrn Knopfs Kauflust erstehe ich mir noch einen versilberten Schuhlöffel mit dem Bildnis des vorletzten Papstes drauf. Natürlich zum Sonderpreis mangels Aktualität. Mein Kauf erinnert Herrn Knopf wieder an das Schuhgeschäft mit der Top-Aktion, dass jedes fünfte Paar gekaufter Schuhe gratis sei.
Glücklicherweise kann ich Herrn Knopf von seinem offensichtlich erwachten Kaufverlangen abbringen, indem ich ihn ablenke.
Wie man Herrn Knopf ablenkt? Ganz einfach.

In wenigen Minuten wird die Olé Olé Bar ihre Tore öffnen. Mit diesem feinen Hinweis wecke ich Herrn Knopfs Lust auf einen Barstuhl und Getränke. Wir stehen mitten in der Langstrassenunterführung – Herr Knopf verzieht sein Gesicht in hässlicher Art in Richtung der Ueberwachungskameras – und der Vorschlag wird flugs und vehement akzeptiert.
Die Vehemenz dieser Zusage bestärkt Herrn Knopf, SOFORT auf dem eigens für Velofahrer reservierten Streifen in Richtung Olé Olé zu marschieren. „Wir kommen durch“, ruft er, und seine Stimme hallt schaurig von den Wänden.

Endlich die Bar, endlich ein Stuhl. Herr Knopf bestellt zwei Bier „ohne“. „Ohne“ heisst, ohne Glas. Geht dann gleich zur Musikbox und drückt sich durch die Reminiszenzen der 60er- und 70er-Jahre. Eric Clapton beflügelt Herrn Knopf. Er rollt seinen Teppich mit dem Röhrenden Hirschen aus, welcher flugs von der Bedienung bewundert wird.
Die Olé Olé Bar ist liebevoll mit tonnenweise Krimskrams vollgestopft und ich erahne, dass ein Teil davon direkterweise von Herrn Knopf stammt. Und ich befürchte, dass der Röhrende Hirsch demnächst neben Jo Siffert hängen wird.
„Das ganze Interieur“, so Herr Knopf, „ist eine Huldigung an den verstorbenen Grümpel-Hans.“  Ein ehemaliger Bauarbeiter und Hausierer, der sein Saufen mit dem Verkaufen liebevoller kleiner Dinge finanziert hat. Zwei Tage, bevor der „Grümpel-Hans“ gestorben sei, habe er ihm noch 450 gebrauchte Hufeisen abgekauft, erzählt Herr Knopf. „Das war reelle Ware. Und billig.“ Ich verkneife mir die Frage, was Herr Knopf mit 450 gebrauchten Hufeisen anstellen wollte.
Die Dame hinter der Theke erinnert sich ebenfalls gerne an „Grümpel-Hans“. „Ein lieber Mensch“, sagt sie und zeigt uns 14 Papageien, 8 Tee-Eier und mehrere Wecker, die damals von diesem geschäftstüchtigen ehemaligen Bauarbeiter verkauft worden seien.
„Liebe Erinnerungen“, meint die Dame versonnen. Hinter ihr steht auf einem Regal reihenweise Priapus in unterschiedlicher Grösse.
„Jaja“, meint sie, wischt über die Theke und verzieht sich ins Hinterzimmer. Möglicherweise wird dort bereits geplant, wo der Röhrende Hirsch hängen soll.
Herr Knopf verspürt Lust auf ein weiteres Bier und, wie er röhrend konstatiert, „auf eine Banane“.
Die Bananengelüste möchte er in einem „1A-Comestible-Geschäft“ am Limmatplatz stillen. Zu weit für mich. Herr Knopf wird aber abgelenkt. Ein Vertreter des lokalen Chapters eines international berüchtigten Motorradclubs betritt das Lokal und wird gleich angemacht, weil auf dem neuen Outfit der Gang, pardon, des Clubs, neuesterdings auf ein Apostroph beim Namen verzichtet wird. „Sauerei“, sagt Herr Knopf und weist auf mich, „er weiss Bescheid! Ein Mann des Wortes!“ Böse Blicke ruhen auf mir. Ich sage nichts. Die Apostroph-Problematik verschwindet aber so schnell wie die Bananenlust. Nun verkündet Herr Knopf, dass er noch zum Iraner wolle. Dort seien 28 verschiedene Sorten Grappa im Angebot. Und am frühen Abend seien die besonders günstig. So lässt Herr Knopf alles hinter sich und eilt in Richtung Zwinglistrasse. Ich eile mit.

Stunden später sind wir dort. Oder wenigstens scheint es ein stundenlanger Weg gewesen zu sein, weil Herr Knopf jede Hausfassade kommentieren, jedes Schaufenster begutachten muss, zwischendurch aber auch freundliche, wenngleich auch unverständliche Sätze bei Prostituierten fallen lassen muss. Unverständlich, weil diese ausländischen Damen fast kein Schweizerdeutsch sprechen und den kleinen, schuppigen und mittlerweile nuschelnden Herrn Knopf als nicht lukrativ einstufen.
Der Iraner entpuppt sich als nettes kleines Weinlokal, wo, so ereifert sich Herr Knopf, auch gekocht wird. Mit Mühe entgehe ich einer allumfassenden Bestellung. Offenbar hat Herr Knopf seine Lust auf eine Banane wirklich vergessen und ihn drängt es nun nach gegrilltem Fleisch. Nicht für sich, nein, für mich.
Ich entsage mich und nippe knopfergeben am kredenzten Grappa, den ich hasse. Doch das Lokal ist freundlich, Herr Knopf auch hier wohlbekannt, der witzbeschlagene Galerist sitzt auch hier, ebenso der Designermöbel-Händler und der Pornoproduzent.

Eigentlich wollte ich heute in einem Fachgeschäft im Langstrassenquartier eine sehr spezielle Glühbirne kaufen. Eine, die es eben nur hier gibt. Die Glühbirne fällt mir nun wieder ein, wenn ich in Herrn Knopfs Augen sehe.
Ich erwähne das ganz beiläufig und deute an, dass ich nun los müsse.
Herr Knopf wendet zu Recht ein, dass das Geschäft in ein paar Minuten eh geschlossen sei, der Galerist erzählt einen Birnenwitz, eine weitere Runde Grappa wird kredenzt, der Designermöbel-Händler verspricht mir eine Birne und ich bestelle Calvados, um den Grappa-Geschmack zu eliminieren.
Also werde ich an meinem nächsten freien Tag eine Birne kaufen müssen. Ich lasse heute alle Birnen fahren und lausche noch ein Weilchen. Ich weiss, ich muss noch einen päpstlichen Schuhlöffel und eine nickende Madonna nach Hause tragen, und auch Herrn Knopfs zusammengerollter Hirsch liegt mir fürsorglich auf dem Magen. Und ebenso die diversen Getränke dieses langen Nachmittags.
Dreissigjähriger Portwein lässt dann aber alle Vorsätze endgültig fahren. Herr Knopf referiert eifrig über die lebenserhaltenden Säfte des Portweins. Was rundherum zu diversen Einsprüchen führt. Herr Knopf verstummt, was eine Seltenheit, aber offenbar auch das Finale eines anstrengenden Tages ist. Geschmacklos bestellt er noch ein grilliertes Muslim-Bein, was sich in Wirklichkeit als Schweins-Kotelett herausstellt. Er beisst sich bis zum Knochen durch und, erstaunlich für ihn, er schweigt.
Und irgendwann steht er auf, legt mir den gerollten Röhrenden Hirsch in die Arme und geht wortlos und leise schwankend weg.

Ich beschliesse, ebenfalls zu gehen.

Weiter vorne in der Strasse sehe ich schemenhaft Herrn Knopf, der sich an einem Kanalisationsdeckel zu schaffen macht. Ich biege an der nächsten Seitenstrasse klammheimlich ab, und auf fürchterlichen Umwegen gelange ich schliesslich nach Hause.

Und erwache spät in der Nacht schweissgebadet und blicke in die blinkenden Augen eines Hirsches und ins Gesicht einer konvulsivisch zuckenden Madonna. Es ist 4 Uhr. In meiner rechten Hand ein abgerissener Knopf meiner Pyjama-Jacke

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