Unverwandelbar

 

Es steht vor dem Spiegel. Betrachtet sich. Ein Neutrum. Nicht männlich, nicht weiblich. Ein flaches, blankes Gesicht, Jeans, formloser Pullover.

Die Hände fahren vorsichtig den Körper entlang. Nichts. Keine Merkmale, kein Gefühl. Neue Sachlichkeit oder besser, neue Sächlichkeit. Es grinst. Wendet dann den Blick vom Spiegel und verlässt das Zimmer.

Auf der Strasse verschmilzt es mit den grauen Wänden. Geht unter im Strom der Passanten. Mühsam quetscht es sich in einen Bus. Versucht, Berührungen zu vermeiden.  Beim Aussteigen bleibt es mit seiner Umhängetasche zwischen zwei Passagieren hängen. Es zieht panisch an der Tasche und wird prompt angeflucht.

Es zuckt zusammen.  Und geht schnell weiter. Hinter sich laute Stimmen. Es mustert sich verstohlen in einer Schaufensterscheibe. Es friert und zittert.

Endlich im Büro angekommen verschliesst es seine Tür. Die Rollos am Fenster bleiben geschlossen.

An seinem Schreibtisch beginnt es, die tägliche Post zu öffnen.

„Sehr geehrter Herr …“. So beginnt der erste Brief. So beginnen fast alle Briefe. Doch es hat sich daran gewöhnt. Die Briefe sind für es unpersönliche Korrespondenz. Es versieht einige davon mit Randnotizen, fertigt Kopien an und legt sie ab. Mit den übrigen Briefen geht es in den Keller, wo Bibliothek und Archiv stehen. Recherchiert.

So geht der Arbeitstag zu Ende. Es sortiert die Recherchen auf seinem Arbeitsplatz. Später würden sie abgeholt werden.

Eigentlich kommt es mit seinem Tagesverlauf ganz gut zurecht. Bei der Arbeit wird es respektiert und in Ruhe gelassen. In der Freizeit vermeidet es Spaziergänge, Veranstaltungen, öffentliche Toiletten, Einladungen, Gespräche, Bekanntschaften und geht körperlichen Kontakten möglichst aus dem Weg.

Manchmal jedoch führt es Gespräche. Alleine vor seinem Badezimmer-Spiegel. Ein kleiner Spiegel, der kaum mehr als sein Gesicht zeigt. Und das meistens kurz bevor es ins Bett geht. Dann löscht es das Licht und zieht sich aus. Im Dunkeln fühlt es sich ein wenig sicherer. Doch es bleiben Angst und Ekel.

Irgendwann einmal, es hat die Erinnerung weit von sich geschoben, musste es sich öffentlich entkleiden. Vor fremden Leuten vor einen Arzt hinstehen. Husten. Es wurde abgeklopft. Ueberall.

Dann war es ohnmächtig geworden. Die nächste Erinnerung war lautes Lachen. Und Witze, die über es gemacht wurden.

Doch dann wurde es von einer netten, zurückhaltenden Person befragt. Diese Person hat ihm eine kleine Wohnung vermittelt sowie einen Arbeitsplatz. Und zweimal pro Woche kommt diese Person vorbei. Bringt Lebensmittel, sorgt für Ordnung in der Wohnung. Und versucht, mit ihm zu sprechen. Doch es antwortet selten und blickt meistens weg.  Trotzdem: diese Person vermittelt ihm eine kleine Art von Sicherheit. Entbindet es von lästigen Dingen.

Als die Person einmal nicht vorbeikommt, wartet es geduldig. Sitzt auf einem Stuhl und blickt zur Tür. Die ganze Nacht. Und den ganzen anderen Tag. Es geht nicht zur Arbeit.  Schliesslich schläft es erschöpft am Küchentisch ein.

Und wieder ein Tag ohne Besuch. Es trinkt Wasser aus dem Wasserhahn. Isst Knäckebrot. Doch die Vorräte schwinden. Es wartet weiter.

Ein Telefon hat es nicht und die Türglocke ist blockiert. Zwei weitere Nächte und Tage des Wartens. Es hat Hunger. Und Panik.

Irgendwann öffnet es die Wohnungstüre und  rennt raus. Raus auf die Strasse. Dann ein Aufprall, Schmerz und es wird dunkel.

Stimmen wecken es. Ein Bett. Grüne Wände. Eine Kanüle zerrt an seinem Arm.

„Herr Moser, hören Sie mich?“. Die Stimme ist verzerrt. Es versucht sich zu bewegen, doch Hände halten es auf. „Herr Moser, Sie müssen ruhig bleiben“ und „So ist gut, Herr Moser“. „Sie haben einen Autounfall gehabt, Herr Moser“. „Tut es hier weh, Herr Moser?“.

Es kann nicht sprechen. Es zittert und versucht sich herumzuwälzen. Die Kanüle wird rausgerissen. Im Hintergrund Rufe, dann dämmert es wieder weg.

Und wieder sind da die Stimmen, die es wecken und einen Namen rufen. Herr Moser, immer wieder Herr Moser. Und Hände. Es spürt Hände,  die es berühren,  die fordern. Ueberall.  Es beginnt zu schreien und schlägt um sich. Seine Hände ertasten etwas Metallisches. Und dann werden die Wände schwarz.

Als es wieder erwacht, sieht es undeutlich eine gebeugte Gestalt über sich. Es will sich bewegen. Sich wehren gegen die Bänder, die es festhalten. Die auch seinen Kopf fixieren. Doch es hilft nichts.

Und spät in der Nacht ruhen seine Augen blicklos auf der Milchglasscheibe, die von einem feinen Gitter geschützt ist.